Wo verorten wir Emotionen in der Gesprächslandkarte 8×8?
Was tust du eigentlich, wenn ein gestandener Mitarbeiter plötzlich vor dir weint? Mit dieser Frage bringt Christine Schmidt etwas auf den Punkt, das jede Führungskraft schon erlebt hat und gibt die Empfehlung, zu fragen „Was brauchst du gerade?“ Sie beschreibt in ihrem Post treffend, was diese Frage bewirkt und warum sie so wirkungsvoll ist.
Etwas abstrakter betrachtet aus der evokatorischen Führung, ist Weinen ein unheimlich starker Gefühlsausbruch, genau so wie übermäßige Freude oder Wut. Wo verorten wir Emotionen in der Gesprächslandkarte 8×8?
Die Gesprächslandkarte 8×8
Zur Erinnerung: Die Gesprächslandkarte 8×8, weiterentwickelt aus der Dynamischen Urteilsbildung von Lex Bos, hat im Kern vier Felder, die sich um die persönliche Frage eines Menschen ranken: In der Vergangenheit die Fakten und Meinungen, in der Zukunft die Visionen und Wege. Und die drei Widerstände aus Claus Otto Scharmers Theory U lassen sich ebenfalls dort finden: In der Vergangenheit die Grenze zwischen Fakten und Meinungen in der Voice of judgement, in der Zukunft die Grenze zwischen Vision und konkreten Schritten in der Voice of fear und in der Fragstellung selbst in der Voice of Cynicism. Durch meine Praxiserfahrung leicht angepasst an Kraft der Rechtfertung, Kraft der Angst und Kraft des Zweifels. Deswegen die Darstellung als Gesprächslandkarte 8×8: vier Schlaufen und drei Kreuzungspunkte.
Emotionen als Signale der Stimmigkeit
In meinen Veröffentlichungen spreche ich von der Stimmigkeit zwischen diesen Feldern. Stimmt die Balance? Stimmen Fakten mit Meinung und Vision mit Wegen oder gibt es ein Störgefühl? Es geht dabei nicht mehr um reine Logik, sondern um das Gefühl als Gradmesser für die Balance in diesem Modell.
Das Zentrum der Gegenwart
Wenn die Frage das Element der Gegenwart ist, dann ist Emotion auch ein Element der Gegenwart. Wir können zwar gestern traurig oder freudig gewesen sein, aber die Emotion ist immer ein Ausdruck, der in der Gegenwart Wirkung erzielt und zwar als Vorfreude auf eine mögliche, erreichbare Vision entstehen kann, dann aber dennoch in der Gegenwart ge- und erlebt wird. Oder sie ist dadurch gekennzeichnet, dass vergangene Erfahrungen im JETZT eine Bewertung und Beurteilung erfahren, die unaussprechlich, und demnach nicht „mit Fakten beschreibbar“ ist. Selbst die Emotion kann oft nur bruchstückhaft mit Begriffen beschrieben werden. Und in dem Moment, in dem wir fähig sind, diesen Begriff zu finden, reduziert sich die Emotion. Emotion kann auch aus der Vorfreude auf eine mögliche Vision und die dahin zu gehenden Wege bestehen, als plötzliches Gefühl einer Evidenz, sprich einer klaren Stimmigkeit zwischen Vision und Weg oder auch als Verlust der Wahrnehmung dieser Schritte.
Von Angst und Freude – Emotionen zu den Zukunftsfeldern
Dass im Zentrum der Zukunftsseite die Voice of fear steht, verweist auf die eine Seite der Zukunft: Stimmt die Balance zwischen Vision und Weg nicht, kann sich ein Unsicherheitsgefühl bis hin zur Angst ergeben. Es kann sich aber auch eine Übersteigerung und Verblendung ergeben, die in eine positive Emotion führt.
Zusammengefasst zeigt sich daher, dass Emotion im Wechselspiel der Felder zueinander eine große Rolle spielt. Sie ist im 8×8-Modell nicht als eigenes Feld, sondern als verbindendes Element zwischen den Feldern wirksam. Sie gehört – genau wie die Frage – ins Zentrum des Modells. Scharmers Voice of Cynicism beleuchtet eher die negative Seite dieser Emotion. Im 8×8 habe ich daher zunächst den Begriff Stimme des Zweifels gewählt – denn auch der Zweifel kann positiv sein. Später wurde daraus die Kraft des Zweifels. Mit der obigen Reflexion könnte es auch Kraft des Gefühls genannt werden und damit sowohl den Zweifel, als auch die Freude einschließen. Dann wäre es vielleicht schlüssig, aus der Stimme der Rechtfertigung eventuell eher ein Gefühl der Rechtfertigung und aus der Stimme der Angst eher ein Gefühl der Enge zu formulieren. Dem wird bereits durch den Begriff „Kraft“ statt „Stimme“ bedingt Rechnung getragen.
Da die Gesprächslandkarte jedoch auf Widerstände und deren Überwindung ausgerichtet ist, wird es vorerst bei diesen „Kräften“ bleiben. In der Lebenswirklichkeit des Menschen zeigt sich jedoch, dass pure Freude, positive Gefühle mit konstruktiven Gedanken verbunden sind. Sie können außerordentlich gute Motivatoren sein.
Warum „Was brauchst du?“ im Zentrum wirkt
Die Frage von Christine Schmidt ist – aus evokatorischer Sicht – deswegen so hilfreich, weil sie weder in die Zukunft zu einem Wunsch fragt, noch in die Vergangenheit zu einer Analyse. Sie bleibt dort, wo das Gefühl ist: Im Zentrum. Und lässt das Gegenüber eigenständig reflektieren. Ob dieser sich nun analytisch in die Vergangenheit begibt, oder visionär in die Zukunft ist seine eigene Denkbewegung. Er wird in keinerlei Richtung gelenkt, erfährt den offenen Raum für die Entwicklung der eigenen Gedanken.
Die gleiche Frage lässt sich auch bei übermäßiger Freude stellen, um damit aus dem emotionalen Überschwang schrittweise wieder zu kommunizierbaren weiteren Schritten zu gelangen.
Fazit
Wenn ich als evokatorische Führungskraft mit starken Gefühlen meiner Mitarbeitenden zu agieren habe, nehme ich dies grundsätzlich erstmal als ein durchaus positivies Zeichen – auch wenn es sich dabei um Weinen handelt: Weil ich weiß: Jetzt ist mein Gegenüber gerade ganz im Jetzt, in der Gegenwart, am Quellpunkt jeder Motivation, Veränderung und Verantwortung.
Ich weiß ebenfalls, dass Gefühle ein wunderbarer Gradmesser und Indikator für gemeinsame, kognitive Überlegungen sind. Daher führt jede zu frühe Bestrebung, schnell wieder auf Lösungswege oder Analysen zu bestehen, zu ungewollten Suggestionen und Lenkungen meines Gegenübers. Die Entscheidung, welchen gedanklichen Weg er oder sie einschlagen will, überlasse ich ihm daher mit der der Frage „Was brauchst du gerade?“
Dass wir dies nur bei starker negativer Emotion nutzen und nicht auch bei positiver Emotion, zeigt, dass wir weit mehr Führungsmomente versäumen, als wir vielleicht denken.
Vielleicht ist das die eigentliche Kunst evokatorischer Führung: dort zu bleiben, wo das Gefühl ist – im Zentrum des Gesprächs bei der Persönlichkeit des Gegenübers.